Migräne: Der Drache im Kopf

Migräne 2

Ich habe neulich auf Facebook einen Link des Stern zum Thema Migräne gefunden. Der Artikel und das Video sollten mit den Vorurteilen über Migräne als “halt bissl Kopfweh” aufräumen.

Eine junge Frau, 17 Jahre alt, die seit 10 Jahren unter chronischer Migräne leidet.

Migräne.

Jeden. Tag.

Seit 10 Jahren.

Mir wären beinahe die Tränen in die Augen geschossen. Ich weiß selbst wie grauenhaft Migräne ist, aber die Vorstellung damit an jedem einzelnen Tag leben zu müssen, ist einfach grauenhaft.

Und wie ich so den Artikel lese und auch bei den Kommentaren lande, überkommt mich die Wut. Wie zum Teufel… kommt jemand, der ganz offensichtlich nie Migräne hatte, auf die Idee, sich darüber ein Urteil anzumaßen, wie schlimm – oder nach den getätigten Äußerungen eben “nicht schlimm” – eine Migräneattacke so ist?

Ach, du hattest auch schon mal ganz dolle Kopfweh? Na, dann kannst du selbstverständlich deine unqualifizierten Kommentare auf Facebook loslassen und allen Migräneleidenden einfach mal schön ne Ohrfeige verpassen. Man ist ja auch Fliesenlegeexperte weil man ein Badezimmer hat.

Wollt ihr wissen, wie Migräne wirklich ist? Ich erzähls euch, ich kenne mich nämlich ganz gut damit aus!

Stellt euch mal vor, es ist ein schöner Tag und ihr geht spazieren. Und ihr kommt an einer Baustelle vorbei, als plötzlich ein Gastank oder irgendwas explodiert und Sachen fliegen durch die Luft. Da ist eine Eisenstange, die direkt auf euren Hinterkopf zu rast. Aber dann passiert irgendwas mit der Raumzeit und auf einmal läuft alles in Zeitlupe ab. Die Eisenstange hat euch erreicht und fängt an sich mit quälender Langsamkeit durch eine Hälfte eures Hinterkopfs zu bohren. Ganz langsam, unaufhörlich. Irgendwann durchbricht sie eure Stirn, irgendwo kurz über der Augenhöhle und bleibt da stecken. Weil aber niemand die olle Eisenstange entfernen kann, müsst ihr jetzt damit rumlaufen.

Rumlaufen?

Nee, eben leider nicht. Mit einer Eisenstange im Kopf läuft es sich nicht so gut in der Gegend herum. Lieber hinlegen.

Hinlegen?

Auch kacke. Sobald man den Kopf irgendwo hinlegt, ruckelt man an der Stange und es wird noch schlimmer. Lieber hinsetzen.

Ja, hinsetzen geht, aber ja nicht den Kopf irgendwo anlehnen. Wobei es schwer fällt allein schon die Muskelkraft aufzubringen, den Kopf aufrecht zu halten. Und weil die Stange ja nur knapp an deinem Auge vorbei im Kopf steckt, kannst du gar nicht mehr richtig geradeaus gucken. Lieber die Augen zu machen.

Und hoffentlich scheint die Sonne heute nicht, denn die wäre unerträglich hell.

Und hoffentlich kommt gerade kein LKW vorbei oder kommt jemand auf die Idee den Geschirrspüler auszuräumen, denn das wäre unerträglich laut.

Und hoffentlich will niemand gerade mit euch sprechen, denn die Zunge hängt im Mund wie ein nasser Lappen, denn in deinem Gehirn steckt ja eine Eisenstange, die dir das Denken und Formulieren von einfachen Sätzen schon fast unmöglich macht. Außerdem könntest du dich übergeben müssen, sobald du den Mund aufmachst.

Ich erinnere mich an meine ersten beiden Migräneattacken, da müsste ich so 17 gewesen sein und hatte keine Ahnung, dass das gerade eine Migräne ist. Ja, das ist wirklich lange her und ich hatte seitdem viele viele Attacken, aber manche waren so schlimm, dass sie mir in Erinnerung geblieben sind.

Wie die ersten beiden male zum Beispiel. Einfach, weil ich vorher noch nie Kopfschmerzen gehabt hatte und dann plötzlich diese geballte Massivität von pulsierendem Schmerz in deinem Schädel explodiert.

Ich wusste lange Zeit nicht, dass ich Migräne hatte. Ich wusste nur, dass ich Unmengen an Aspirin oder Ibuprofen in mich rein stopfen konnte, ohne auch nur die geringste Linderung zu verspüren.

Als dann ein Hausarzt und später der Neurologe mir sagten, das sei ganz klassische Migräne, war das zum einen Erlösung, aber auch Belastung. Denn noch längere Zeit wusste ich nicht, wie ich die Schmerzen los werden kann. Ich hatte es mit Schmerztabletten versucht: Fehlanzeige. Schlaf? No Sir. Migränetee: Nutzlos. Meditaion? Logo, versuch doch mal mit dieser beschissenen Eisenstange im Kopf zu meditieren.

Migräne 1

Gehen wir jetzt mal zurück zu unserem Szenario von dem explodierenden Gastank. Stellt euch vor, irgendwann, nach quälenden Stunden, manchmal Tagen, bei einigen Leuten sogar Wochen oder länger, verschwindet die Stange aus eurer Kopfhälfte. Selten gibt es schönere Momente, als die, in denen man merkt, dass der Schmerz nachlässt.

Das Problem ist aber: irgendjemand hat einen neuen Gastank mit vielen Eisenstangen drumrum an euer Bein gebunden. Und weil der Tank und die Druckanzeige kaputt sind, kann er jederzeit hoch gehen, völlig überraschend, und euch die nächste Eisenstange durch den Kopf treiben.

Ihr geht also durchs Leben, mit diesem labilen Gastank ständig hinter euch, und fragt euch jede Minute, wann er wieder los gehen könnte.

Oh, ich glaube ich spüre ein ganz leises Ziehen… Könnte das schon eine Vorankündigung sein? Ja? Nein? Mal abwarten. Doch nicht? BOOOOM! Fuck…

Migräne ist eine neuronale Erkrankung. Gefäße im Gehirn weiten sich und “drücken” auf Nervenenden, die dann wiederum durchdrehen und einen gewaltigen Schmerzreiz auslösen. Zumindest die gängigste der 1000 Theorien. Warum das alles passiert, kann niemand bislang wirklich sagen. Irgendwas mit Stress halt. Oder Lebensstil. Oder so. Stress und Lebensstil sind immer gerne genommen,wenn man sonst nix weiß. Oder vererbt. Geht auch immer. Wetterumschwung…

Egal was der Rest von euch jetzt denkt: wir haben uns die Migräne weder ausgesucht, noch durch einen gewagten Lebensstil oder zu viel Stress provoziert. Ich habe mich jahrelang mit dieser Krankheit beschäftigt, Fachartikel gelesen (und nur bedingt verstanden), Ärzte gelöchert, jede Fernsehreportage über Migräne angesehen, jede Form der Prophylaxe versucht. Ich habe mehr Sport getrieben, weniger Sport getrieben, das Rauchen aufgehört, viel getrunken, auf Alkohol verzichtet, weniger Milchprodukte zu mir genommen, autogenes Training nach Jacobsen probiert, hatte viel Stress, wenig Stress, ja habe sogar anderthalb Jahre lang ein Migräne-Tagebuch geführt. Ohne Ergebnis. Keine Regelmäßigkeiten, die Migräne-Attacken kommen wann sie wollen. Stress-, wetter- und weltgeschehenunabhängig.

Dabei habe ich es noch ganz gut: meine Attacken kommen zwar randommäßig unberechenbar – manchmal mehrmals die Woche, manchmal wochenlang gar nicht – aber immerhin spricht meine Migräne auf Naratriptan an, einem speziellen Migräne-Medikament. Das hilft nicht bei jedem Migräne-Patienten.

Also dann einfach Tablette einwerfen und gut is, oder? Warum also weiter rumjammern?

Naratriptan ist kein Schmerzmittel, das einfach ein paar Schmerzrezeptoren kurz lahm legt. Es verengt die Blutgefäße im Gehirn. Und hemmt die Neurotransmitter, die ansonsten amok laufen und immer nur “Schmerz, SCHMEEERZ!” schreien. Würdet ihr euch ständig sowas rein pfeifen wollen? Entscheide dich: Eisenstange durch den Kopf oder ein Medikament, das dein Gehirn manipuliert, dich noch Stunden später unkonzentriert und müde macht?

Nein, Migräne ist kein Spaß. Sie ist nicht einfach ein “doller Kopfschmerz”. Sie ist die Eisenstange, die in deinem Kopf steckt; der wütende Drache, der in deinem Schädel tobt; der Hurricane, der in deinem Hirn wütet.

Nein, das ist kein mimimi, kein Mitleidsgeheische. Muss keiner weinen wegen meiner Migräne oder irgendwessens sonst. Ich will nur Verständnis. Wir haben keine Migräne, weil wir keinen Bock auf Sex haben oder nicht auf die öde Party beim nervigen Nachbarn wollen. Und Migräne geht auch nicht mit einem schönen starken Espresso weg.
Migräne existiert und sie ist kacke.
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